«Mad Men» ist das Beste, was das Fernsehen derzeit kann.
Die US-Serie zeigt beispielhaft, wie das Medium immer mehr Zuschauern die Lektüre eines Romans ersetzt.
Von Regula Freuler
Sie beginnen den Tag im Büro mit einem Scotch, kommandieren die Sekretärin herum, vergnügen sich mittags mit der Geliebten, reissen antisemitische Witze, beenden den Tag in der Strip-Bar und rauchen eine Zigarette nach der anderen. Sie werden «Mad Men» genannt, nach der New Yorker Madison Avenue, dem Synonym für die amerikanische Werbeindustrie.
«Mad Men» heisst auch eine Fernsehserie, die es auf Deutsch nur auf dem digitalen Sender ZDFneo und auf DVD gibt. Was erstaunlich ist. Denn seit der Ausstrahlung der ersten Episode 2007 wird sie mit Preisen überhäuft und hat als erste dreimal in Folge den Emmy als Beste Drama-Serie gewonnen. Im Fokus steht Don Draper, Mittdreissiger, Creative Director der Werbeagentur Sterling Cooper, in der eine Heerschar von Sekretärinnen um die Wette tippt und deren Büros besetzt sind vom Typus weiss, männlich, Mittelstand. Draper ist ein Womanizer, doch mischt sich in seine Lust stets ein Quentchen Herablassung und Verlorenheit. Im kleinstädtischen Zuhause, in Pendlerdistanz zur Metropole, erzieht Ehefrau Betty, vormals Model und jetzt Vorstadt-Grace-Kelly, die zwei (später in der Serie drei) Kinder. Alles andere und oft auch das erledigt die schwarze Haushaltshilfe. Man schreibt die Jahre 1960 ff.
Wenn Fernsehen ein Spiegel der Gegenwart ist, was haben dann bitte schön diese Chauvinisten von vorgestern mit uns zu tun? Viel mehr, als man auf Anhieb denken mag. Zum Beispiel das Gefühl, sich in einer Zeit des rasenden Wandels zu befinden, in der alte Gewissheiten ebenso zerfallen, wie auch Optimismus herrscht. Von Eisenhower zu Kennedy, von Bush zu Obama; damals Kubakrise und Vietnam, heute Finanzkrise und Taliban; dort Farbfernsehen und Raumfahrt, hier Internet, iPhone, Blackberry. Von Anfang an wird dem Zuschauer vermittelt, dass es in dieser präzise recherchierten und ästhetisch atemberaubend nachgebildeten Serie, die sich jedoch in keiner Sekunde als Geschichtslektion aufspielt, unter der Oberfläche gärt. Da sind Bettys Zitteranfälle. Da ist dieser Vorspann: Eine männliche Silhouette betritt ein Büro, die Gegenstände lösen sich von den Wänden, und die Figur fällt zwischen Hochhausschluchten, tiefer und tiefer.
Neben dieser Ähnlichkeit der Verunsicherung ist es der schreiende Kontrast mit der heute herrschenden politischen Korrektheit. Witze über Juden, Verachtung von Homosexuellen, alkoholisiert Auto fahren, nach dem Picknick den Abfall liegenlassen, vier Päckchen Zigaretten am Tag rauchen, wie der Werbetexter Jerry Della Femina es tat, dessen Memoiren der Serie als Grundlage dienten - «Mad Men» bekräftigt uns in jener wohligen Überzeugung, es heute besser zu wissen.
Am eindrücklichsten erlebt man das bei den Frauenfiguren Betty Draper, der von der Sekretärin zur Werbetexterin aufgestiegenen Peggy Olson und der Büro-Managerin Joan Holloway. Betty steht für all jene verzweifelten Hausfrauen, denen der Psychiater die Diagnose «Langeweile» stellt und die - zu Recht - nichts so sehr fürchten wie eine Scheidung. Als in der Nachbarschaft eine geschiedene Alleinerziehende einzieht, zerreissen sich die ihre ehebrecherischen Gatten stumm akzeptierenden Heimchen die makellos geschminkten Mäulchen. Als Betty die Rolle als Mrs Perfect nicht mehr aushält und eine Trennung erwägt, spricht jene Nachbarin Bettys grösste Angst aus: «Das Härteste daran ist, zu erkennen, dass du nun selbst verantwortlich bist.» Dem entzieht sich Betty durch Ehe Nr. 2. Die unscheinbare Peggy dagegen steht für die unabhängige Frau. Sie bringt grösste Opfer für ihre Karriere, kämpft beharrlich für gleiche Behandlung und Entlöhnung und verzweifelt doch schier an der Männerbündelei. Joan, eine rothaarige Marilyn Monroe, bringt es auf den Punkt: «Wenn du ihr Land betreten willst, lerne ihre Sprache.» Auch in Joan steckt eine kluge Frau, die der Agentur einmal souverän einen Auftrag rettet. Doch sie ist zu sehr Realistin, um ins andere «Land» auszuwandern.
Den Erfolg der Serie «Mad Men» versteht man, wenn man bedenkt, wer sie anschaut. Und in welcher Form. «Mad Men» ist nicht Gesprächsstoff auf dem Pausenhof wie «Prison Break» oder «Glee», sondern unter Menschen über dreissig. Jener Generation, die mit Fernsehen aufgewachsen ist, ihre Jugend so lange wie möglich hinauszögert, sich so spät wie möglich für Kinder entscheidet, Ferien wie Rendez-vous last minute bucht und Agglomeration für ein Synonym von alt hält. Man trauert den Freiheiten nach, die nun unter der Bürde der Verantwortung und dem nachwuchsbedingten Schlafmangel mit dem süssen Vogel Jugend davonflattern. Diese Sehnsucht, ein anderer sein zu wollen, wird in Don Draper personifiziert. Denn er ist ein anderer, als er zu sein vorgibt. Und wenn er den barfuss auf der Wiese tanzenden Kindern zusieht und mit den Fingerspitzen verstohlen übers Gras streicht, dann packt einen das Fernsehen wieder mit seiner mächtigsten Pranke: der Wiedererkennung.
Wie ein Fortsetzungsroman
Die lebenslang telemedial trainierten Dreissiger, die nun ans Zuhause gebunden sind, ersetzen das Kino mit der DVD und die Lektüre der Gegenwartsliteratur mit der Fernsehserie. Eine solche kann man sich im Gegensatz zum Buch, das zu lesen man oft zu müde ist, immerhin gemeinsam zu Gemüte führen. Unlängst räumte der deutsche Schriftsteller David Wagner (Jahrgang 1971) ein, dass das Schauen anspruchsvoller Fernsehserien einerseits und Lektüre andererseits für ihn mittlerweile gleichrangig seien. Wagner ist in wachsender Gesellschaft.
Das liegt an der fundamentalen Entwicklung der TV-Produktionen in den letzten zehn Jahren. Mit der zigfach preisgekrönten Mafia-Serie «The Sopranos» stellte David Chase die Weichen zu einem neuen Erzählen in diesem Genre, das als visuelle Version des Fortsetzungsromans verstanden werden kann. Die klassische Dramaturgie mit dem Cliffhanger am Ende jeder Episode wurde aufgegeben zugunsten eines Realismus der Details, einer neuen Erzählstruktur, die den Kapiteln eines Gesellschaftsromans viel näher ist als alle bisherigen Serien. Vor «Mad Men» ist das erstmals der Krimiserie «The Wire» gelungen, die der Generation DVD den Beweis lieferte, dass man Fernsehen schauen kann und trotzdem nicht verblödet. Mit dem neuen Grad an struktureller Komplexität werden grundsätzliche Fragen des Erzählens aufgeworfen: Wie kann man die unübersichtliche Wirklichkeit darstellen? Denn dies tut ein guter Gesellschaftsroman: Er bringt die Splitter des Alltags in Zusammenhang.
Blick in die Seele
Was solche Serien gemeinsam auszeichnet, ist ihr Blick über den Vorgartenzaun. Das ist nicht wörtlich gemeint, wie zum Beispiel «In Treatment» zeigt. In dieser Serie, die von einem Psychotherapeuten, seinen wöchentlich wiederkehrenden Patienten und seiner Supervisorin handelt, bleibt die Kamera stets im Haus des Therapeuten, ruht pro Episode 25 Minuten lang abwechslungsweise auf ihm und dem Patienten. Und man kann einfach nicht mehr wegzappen.
Diese neuen, vorwiegend nordamerikanischen Serien sind Gesellschaftspanoramen, die in - meistens urbanen oder suburbanen - Mikrokosmen die Realität eines Landes, wenn nicht sogar der westlichen Welt abbilden. Die gefühlte Nähe zur Literatur ist dem in die Tiefe sozialer Strukturen wie menschlicher Seelen gerichteten Blick sowie dem konzentrierten Erzähltempo geschuldet, das ohne die schnellen Schnitte von Actionserien und die rhythmisierten Tempuswechsel von Krankenhausserien auskommt.
Solche Fernsehserien haben der Literatur sogar etwas voraus: Sie dauern länger und enden erst, wenn der Zuschauer nicht mehr interessiert ist. Von «Mad Men» wird heute die letzte Episode der vierten Staffel ausgestrahlt (die fünfte ist bereits in Vorbereitung). Das schlägt bei vier Staffeln à 13 Episoden zu jeweils 47 Minuten mit rund 40 Stunden Fernsehen zu Buche. Rechnet man ungefähr zwei Minuten Lesezeit pro Seite, so ist man nach 25 Stunden mit, sagen wir Jonathan Franzens neuem Gesellschaftspanorama «Freiheit» schon durch.
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