Die wichtigste Reizstelle des Kopfes ist der Mund, und er bildet nächst den Geschlechtsteilen die wichtigste Reizstelle überhaupt, denn die Zone des Mundes nimmt gleichzeitig vier ver- schiedene Reizformen auf: Tast-, Wärme-, Schmeck- und Riechreize. Die gegenseitige Berührung des Mundes kann sich vom flüchtigen konventionellen "Bruderkuss" bis zum Zungenkuss, der Einführung der Zunge in die Mundhöhle des Partners, und bis zum Liebesbiss, der die Lippen verwundet, durch alle Nuancen steigern und varieren. Fast alle höheren Tiere küssen sich, für das Küssen der Vögel hat man sogar ein eigenes Wort geprägt: "schnäbeln", und an Fischen kann man beobachten, dass sie sich beim Küssen in der Liebes- raserei die Maulränder abreissen. Der Kuss ist die oberste aller Kontrollstationen. Hier wird die entscheidende Frage gestellt: Schmeckst du mir ? Die Erotik ist eine zwar wohltuende und heitere, aber zugleich auch tiefernste Angelegenheit, und die Frage, ob zwei Menschen, die sich geschlecht- lich verbinden, aneinander "Geschmack" finden, d. h. ob ihre Körper- säfte chemisch harmonieren, ist sowohl für ihr eigenes wie für das Glück des von ihnen zu zeugenden Kindes von ausschlaggebender Bedeutung. Auf diese Frage gibt der Kuss, der richtig durchgekostete Kuss eine klarere Antwort als alle jene in ihrem Wahrheitswert höchst zweifelhaften Liebesschwüre, die die Lippen stammeln. In seiner Bedeutung als Körper- und Seelenprüfer übertrifft der Kuss an Erkenntnistiefe und Einsichtsmöglichkeit sogar die geschlechtliche Vereinigung selbst. Denn der Mund, als Tast- und Schmeckorgan täglich geübt und erprobt, ist ein unvergleichlich feinerer Richter als jeder andere Sinnesapparat, und im Küssen besitzt der Mensch noch die Klarheit des Urteils, die ihm im Rausch der Begattung später verloren geht. Man gehe daher in der Liebesprüfung gerade durch diese Station mit grösstem Bedacht. Ehe du dich hingibst, küsse, und gib dich nicht eher hin, als bis du geküsst hast, mit der ganzen Konzentration deiner Empfindungsfähigkeit und Urteilskraft geküsst hast. Und wenn du unter den Küssen des Gelieb- ten die Augen schliesst, so tue es, um dem Hellseher gleich, im Innern doppelt klar zu sehen. Und wenn dir der Kuss des anderen nicht wahrhaft köstlich mundet, wenn du ihn nicht wirklich wie Nektar von den Lippen schlürfst, wenn du nicht unter seinem warmen Atem in eine süsse Halbnarkose sinkst und mit dem letzten Rest Besinnung, der dir blieb, flüsterst oder wenigstens empfindest: "Ach, wie schmeckst du mir so gut!"—wenn der Kuss dir das nicht ist, dann nimm alle Kraft zusammen, die dir die Leidenschaft des Augen- blickes liess und verschliesse deinen Mund und—Schoss.
Es fehlt die von der Natur geforderte Voraussetzung allen erotischen Glückes: